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Schaun Sie nicht weg

Erinnerungsaktion zum 10. November 2006

von Wolfram P. Kastner, Hubert Kramar, Hanne Hiob u.a. Zwei Frauen und 5 Männer knien in der Kärntner Straße und schrubben mit Bürsten und Wasser das Granitpflaster der Wiener Fußgängerzone. Zwischen Hotel Astoria und Casino, Wienerwald und Juwelier.

Ein Mann in Ledermantel und ein Uniformierter wachen über die Putzarbeit der Knienden, die auf dem Rücken einen gelben Stern tragen.

 

Passanten, Einkaufende und Touristen bleiben stehen und betrachten offenbar irritiert die unerwartete Situation, versuchen das Bild irgendwie einzuordnen. Manche gehen vorbei, stutzen und bleiben erst nach einigen Metern stehen. Drehen sich um, denken nach. Einige kommen wieder zurück und beobachten die stumm und zu Boden geduckten Menschen. Einer trägt einen Hut und einen weißen Bart. Daneben ein junge Frau mit rötlichen Haaren, einer hat dunkle Haare, einen Vollbart ... sind das Juden?

 

Eine ganz Gruppe von Schülerinnen und Schülern bleibt stehen, eine Frau bricht in Tränen aus, eine andere umarmt sie und spricht auf sie ein. Die Schüler diskutieren mit ihren Lehrern, wollen etwas tun, aber was? Eine Frau geht auf den Bewacher im Ledermantel zu und fragt ihn, ob sie etwas tun könne. Ja, aber was denn? Ein Junge bietet dem älteren Mann, der mit einer Handbürste das Kopfsteinpflaster reibt, einen Apfel an. Ein paar Schüler wollen mitmachen, ihr Lehrer rät ihnen, selber eigenständige Initiativen zu ergreifen.

Gruppen von älteren Menschen bleiben stehen, nicken mit dem Kopf, greifen nach den Informationsblättern. "Schaun Sie nicht weg" steht da unter einem schwarz-weißen Foto von 1938 in Wien:

"Was 1938 in Wien vor aller Augen geschah,

soll als irritierendes Bild in aller Öffentlichkeit

mit dieser Aktion erinnert werden.

Als Mahnung gegen Ausgrenzung und Gewalt, die immer ihren Anfang mitten unter uns haben. Als Aufruf zu Wachsamkeit gegenüber allen aktuellen Versuchen, die Nazi-Verbrechen zu verharmlosen und erneut die Würde und Freiheit von Menschen zu verletzen."

Ein Passant geht sehr schnell quer vor der Gruppe kniender Menschen vorbei und ruft "Alle nach Israel ..." und verschwindet sehr eilig. Ein Ehepaar im Raiffeisen-Look bleibt stehen "Das ist doch reine Provokation!" sagt sie sehr schrill. Er schweigt, lächelt kopfschüttelnd. Wen oder was meint die Frau? Den rennenden Blödel-Antisemiten? Oder das tableau vivant, das nicht zu der Erwartung der Schlendernden, Einkaufenden oder die Schönheiten der Stadt Wien Suchenden passt? Wozu fühlt sie sich provoziert?

 

Ein Herr geht auf den Uniformierten zu, spricht von Zukunft und Endlich-dazugehören. Er findet das Ziel der Aktion zwar eigentlich ganz richtig, hat aber doch Angst, dass es auch das Gegenteil bewirken könne, nämlich, dass einige sagen könnten "jetzt geben die immer noch keine Ruhe. Die sollen doch nach Israel." Dann setzt er hinzu: "Und wissen Sie, ich bin Österreicher und ich liebe alle Österreicher." – "Alle?" "Naja nicht alle, aber wissen Sie, ich will in die Zukunft schaun .. und nicht mehr in die Vergangenheit. Sind Sie Jude?"

"Wir sind Menschen und wollen auch in eine menschliche Zukunft schaun – ohne Ausgrenzung und Verharmlosung der NS-Geschichte, wie es bei manchen Burschenschaftlern, Politikern und anderen Idioten Brauch ist. Und ohne, dass Juden Angst haben müssten, nach Israel verwiesen zu werden."

Immer mehr Menschen bleiben stehen. Manche sind offenbar vollständig gefangen von dem unerwarteten Bild der Erniedrigung. In manchen Blicken liegt Entsetzen. Reisegruppen kommen und gehen. Die Informationsblätter sind alle verteilt. Touristen und ein Wachmann vor dem Casino lassen sich das lebende Bild erklären. Viele Passanten fotografieren. Was wird mit diesen Bildern geschehen? Wer wird sie gezeigt bekommen?

Hanne Hiob liest das Gedicht ihres Vaters "Die Medea von Lodz", das endet:

"Zwischen Tram und Auto und Hochbahn

Wird das alte Geschrei geschrien 1934 In unserer Stadt Berlin."

"2006 In Wien" – setzt sie aus gegebenem Anlass dazu.

 

Nach einer Stunde schmerzen uns die Knie. Wir frieren, sind hungrig. Wir stehen auf. Wir können aufstehen. Es war und ist notwendig aufzustehen, "gegenüber allen aktuellen Versuchen, die Nazi-Verbrechen zu verharmlosen und erneut die Würde und Freiheit von Menschen zu verletzen."

Die Aktion wurde von Wolfram P. Kastner, Hubert Kramar und Kajetan Dick vorbereitet und zusammen mit Eva Schuster, Ruth Rohrmoser u.a. Ausgeführt.

 

p.s. Ein Kompliment an die Wiener Polizei, die klug und souverän war und nicht gegen die Erinnerungsaktion einschritt - anders als das z.B. in der Ordnungszelle Bayern üblich ist.

Carl Blauhorn

 


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